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Zusammenfassung/ Abstract von Jasmin Schott:
Achtsamkeit ist die bewusste und urteilsfreie Aufmerksamkeitslenkung auf die Wahrnehmungen im gegenwärtigen Augenblick. Ziel dieser Studie ist es, den Einfluss von Achtsamkeitsübungen auf die Persönlichkeit, die Stressverarbeitung und die Selbstaufmerksamkeit in einem Zeitraum von vier Wochen zu ermitteln. Untersucht werden Psychologiestudenten im ersten Semester. Die Achtsamkeitsforschung fokussiert bislang hauptsächlich auf klinische Zielgruppen. Mit der Untersuchung der Effekte von Achtsamkeit auf Psychologiestudenten möchte die vorliegende Studie die Relevanz einer präventiven Vermittlung von Achtsamkeit für nicht-klinische Personengruppen betonen. Die Studierenden praktizieren Achtsamkeitsübungen aus dem Mindfulness-Based-Stress-Reduction Programm. Erfasst werden mögliche Veränderungen auf die oben genannten Variablen mit Hilfe von standardisierten Fragebögen im Prä-Post-Vergleich. Die Ergebnisse zeigen, dass ein vierwöchiges Achtsamkeitstraining die private Selbstaufmerksamkeit signifikant verbessert. In Bezug auf die Persönlichkeit und die Stressverarbeitung machen die Ergebnisse dieser Studie lediglich eine Tendenz des positiven Einflusses von Achtsamkeitstraining deutlich. Zukünftige Forschung sollte nicht-klinische Zielgruppen in größerem Stichprobumfang und mit längerer Achtsamkeits-Übungsdauer untersuchen.
Mindfulness means consciously and non-judgmentally paying attention to the present moment. The aim of this study is to investigate the effects of mindfulness practice on personality, stress management and self-awareness. The examined group consists of psychology students at the first term of study. Mindfulness research so far mainly focuses on clinical target groups. By studying the effects of mindfulness on psychology students the present study aims to emphasize the importance of providing this concept preventively to a non-clinical group. The students practice mindfulness related to the Mindfulness-Based Stress Reduction programme during a period of four weeks. Possible changes to the variables mentioned above are investigated by means of standardized questionnaires in the pre-post comparison. The results show that a four-week mindfulness training improves the private self-awareness significantly. Trends, but not significant results, on personality and stress management found in this study indicate further investigation of mindfulness training on non-clinical groups implying a larger sample and a longer duration of practice.
Achtsamkeit ist Trend. Als gezielte Aufmerksamkeitslenkung auf die Erfahrungen im gegenwärtigen Augenblick (Kabat-Zinn, 1994) ist die 2500 Jahre alte und hauptsächlich in der buddhistischen Tradition verwurzelte Tradition der Achtsamkeit längst nicht mehr nur der östlichen Kultur vorbehalten. Die Achtsamkeitspraxis hat den spirituellen Raum von Klöstern und Meditationszentren verlassen und ist in Form von achtsamkeitsbasierten Stressreduktionsprogrammen in das Feld des westlichen Gesundheitssystems eingetreten. „Achtsamkeit – das Mittel gegen den Alltagsstress“ (Geuter, 2008, S. 20) – so betitelte die Psychologie Heute den Achtsamkeits-Boom der letzten zwei Jahrzehnte.
Ihren Anfang nahm die Renaissance der Achtsamkeit in den 1980er Jahren in den USA und verbreitete sich in den letzten Jahren auch in Deutschland. Was ist neu an der aktuellen Auseinandersetzung mit einem Konzept, das auf einer jahrtausendealten Tradition beruht? Warum ist Achtsamkeit gerade jetzt gesellschaftlicher und psychotherapeutischer Trend? Der Gestalttherapeut Erhard Doubrawa wundert sich in Bezug auf den aktuellen Achtsamkeits-Hype zu Recht: „Worum geht es in der (psycho-)therapeutischen Beziehung, wenn nicht um Achtsamkeit? Und wie kann man sich vorstellen, dass Psychotherapie erfolgreich sein könnte – ohne Achtsamkeit?“ (Doubrawa, 2006, S. 264)
Ich bin der Meinung, dass sich das Neuartige an der gegenwärtigen Achtsamkeits-Diskussion um die Frage dreht: Welche Form kann eine westliche Kultur finden, um ein östliches Konzept in Bereiche wie Psychotherapie und Gesundheitswesen angemessen und nachhaltig zu integrieren und für welche Personengruppen ist das möglich und geeignet? Zudem sehe ich in der Diskussion über Achtsamkeit auch eine Diskussion über die Defizite gängiger Therapieverfahren und eine Reaktion der westlichen Gesellschaft auf das zunehmend leistungsorientierte Klima.
Das gestiegene wissenschaftliche Interesse an Achtsamkeit und Akzeptanz in der Psychotherapie führte in den letzten Jahren zum einen dazu, dass mehr empirische Belege für die Wirksamkeit dieser Prinzipien geliefert wurden. Dies stellt eine Bestätigung für Therapieverfahren dar, „die seit je eine starke Affinität zu Themen wie Akzeptanz und Achtsamkeit haben (etwa die personenzentrierte Therapie, Focusing und die Gestalttherapie).“ (Michalak & Heidenreich, 2006, S. 327)
Zum anderen veränderte die Einbettung von achtsamkeitsbasierten Elementen in die Therapiepraxis die bis Anfang der 1990er Jahre primär kognitions- und lösungsorientierte Verhaltenstherapie. Nach der behavioralen und kognitiven Wende leitete sie damit die so genannte „Dritte Welle“ (Heidenreich et al., 2007) oder „Dritte Wende“ (Berking & Känel, 2007) in der Verhaltenstherapie ein. Mit der Dialektisch-Behavioralen-Therapie nach Linehan (1993), der Acceptance & Commitment Therapy nach Hayes (1999), der Metakognitiven Therapie nach Wells (2000) und der Mindfulness-Based Cognitive Therapy nach Williams, Teasdale und Segal (2002) wurden Therapiemethoden entwickelt, die Achtsamkeit und Akzeptanz als zentrale Therapieprinzipien vermitteln und Patienten unterstützen, achtsam und dadurch gesundheitsfördernd mit ihrer Krankheit oder ihren Problemen umzugehen.
Der gesamtgesellschaftliche Trend zur Achtsamkeit jenseits des Feldes der Psychotherapie zeigt sich unter anderem in der stetig wachsenden Popularität von Yoga und Meditation, der Auseinandersetzung mit gesunder Ernährung, alternativer Medizin und mehr Bewusstheit für Umweltaspekte. In der modernen Leistungsgesellschaft kommt die Psyche den schnelllebigen äußeren Anforderungen oftmals nicht mehr hinterher und die Menschen werden immer empfänglicher für Angebote, die das Tempo des Alltags reduzieren und den unachtsamen Konsum diverser Medien ins Bewusstsein rufen. Die Praxis der Achtsamkeit bietet eine solche Möglichkeit.
Die zunehmende Ökonomisierung und Effizienzorientierung unserer Gesellschaft (und damit auch des Gesundheitswesens und der Psychotherapie) bergen die Gefahr, das Hier und Jetzt zu einer bloßen ´Ressource` zu degradieren, in der die Gegenwart nur noch als Mittel zur Erreichung von zukünftigen Zielzuständen gesehen wird. (...) Ein wichtiges Potential achtsamkeitsbasierter Ansätze scheint uns darin zu liegen, Vereinseitigungen des westlichen Lebensstils auszugleichen. (Michalak & Heidenreich, 2006, S. 328 ff.)
Den Impuls für die Auseinandersetzung mit dem Thema Achtsamkeit im Rahmen meiner Diplomarbeit gaben Fragen wie ich sie oben aufgeworfen habe. Als angehende Psychologin und praktizierende Gestalttherapeutin besteht mein Interesse darin, zu erforschen, ob und in welcher Form Achtsamkeit vom Trend zum Impulsgeber für dauerhafte Veränderung im Feld von Psychologie und Therapie unterschiedlicher Schulen gelangen kann. Mit dem Studiengang der Psychologie an der Humboldt Universität zu Berlin und der Ausbildung zur Gestalttherapeutin am Institut für Gestalttherapie und Gestaltpädagogik in Berlin (IGG) erlebte ich zeitgleich die wissenschaftliche Vermittlung von Psychologie und den erfahrungsgeleiteten Ansatz eines achtsamkeitsbasierten Therapieverfahrens.
Als eine Vertreterin der humanistischen Psychologie ist die Gestalttherapie eine Form der Psychotherapie, „die vor allem darauf abzielt, die Kontakt- und Wahrnehmungsfähigkeit im Hier und Jetzt zu stärken“ (Doubrawa, 2006, S. 263). Achtsamkeit und Akzeptanz gelten dabei als zentrale Prinzipien. Dies drückt sich sowohl in der urteilsfreien, von Offenheit und Wohlwollen geprägten Haltung des Therapeuten gegenüber den Klienten aus, als auch in der Einstellung zu den im Therapie-Setting möglichen Veränderungsprozessen. Veränderung ist dann möglich, wenn jemand wahrnimmt und akzeptiert, wie er ist und nicht wenn er versucht zu werden, wie er nicht ist. (Beisser, 1997) In diesem Credo wird die Nähe des Gestalt-Ansatzes zur buddhistischen Tradition der Achtsamkeit deutlich. Im Zentrum der gestalttherapeutischen Methode steht die Entwicklung und Sensibilisierung von Gewahrsein im Hier und Jetzt. Die Begriffe Gewahrsein (engl. awareness) und Achtsamkeit (engl. mindfulness) sind dabei nicht gleich zu setzen. Gewahrsein bedeutet, „wahrnehmen, dass ich wahrnehme“ (Doubrawa, 2006, S. 264) und Achtsamkeit bezieht sich auf den „Umgang mit dem, was ich wahrnehme“ (Doubrawa, 2006, S. 264). Achtsamkeit ist somit Form und Haltung, in der sich Gewahrsein ausdrücken kann.
In der therapeutischen Ausbildung erlebte ich bei mir selbst und bei der Arbeit mit Klienten, wie durch die Übung von Gewahrsein und Achtsamkeit der Zugang zu Gefühlen, Gedanken und Körperprozessen sensibilisiert werden kann. Dadurch wird die natürliche organismische Selbstregulation des Körpers aktiviert und psychische, physische und zwischenmenschliche Probleme können überwunden werden. Auch im Curriculum der Ausbildung zur Gestalttherapeutin spiegelte sich der erfahrungsgeleitete Gestalt-Ansatz wider. So erfuhr ich in Form von Selbsterfahrung in der Gruppe und Einzelgesprächen in der Lehrtherapie welche Veränderungs- und Heilungsprozesse durch ein achtsamkeitsbasiertes Therapieverfahren möglich sind. Ich lernte Ängste zu überwinden, meine Coping-Strategien in Bezug auf Stress zu revidieren und gesundheitsfördernder einzusetzen und erlebe mich nach der gestalttherapeutischen Ausbildung als selbstbewusster und selbstaufmerksamer in Bezug auf meine Bedürfnisse, Wünsche, Ziele und Grenzen. Neben der Entwicklung dieser achtsamen Haltung in mir selbst lernte ich im Laufe der Weiterbildungsjahre die gestalttherapeutische Arbeit mit Klienten im Einzel- und Gruppen-Setting. Auch bei der Arbeit mit Klienten konnte ich bereits Veränderungen in Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung, die Stressverarbeitung und die Selbstaufmerksamkeit beobachten. Mit dieser Arbeit möchte ich untersuchen, ob sich meine Erfahrungen zu den Effekten von Achtsamkeit auch mit wissenschaftlichen Mitteln nachweisen und bestätigen lassen.
Das Studium der Psychologie ergänzte meinen Einblick in das Spektrum von Therapie und Psychologie neben dem Erlernen des naturwissenschaftlichen Arbeitens insbesondere in Bezug auf die diagnostische Erfassung von Krankheitsbildern und dem Syndromspektrum psychischer Störungen. Im Schwerpunkt „Klinische Psychologie“ wurde mir an der Universität ein umfangreiches Störungswissen gemäß der Diagnosekriterien ICD-10 und DSM-IV vermittelt, Fragen nach der konkreten Umsetzung in der Behandlung wurden jedoch ausschließlich aus einer kognitiv-verhaltenstherapeutischen Perspektive als alleinige Methode der Wahl beantwortet oder an die auf das Studium folgende Therapieausbildung verwiesen. Ich erlebte die Beschäftigung mit den Methoden und Antworten der Verhaltenstherapie innerhalb des Studiums als Bereicherung für mich als Gestalttherapeutin und zugleich als Begrenzung eines meiner Erfahrung nach zu einseitigen Blickes dieses Fachbereichs an der Humboldt Universität.
Wenn sich achtsamkeitsbasierte Therapieansätze nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland als effektive Methoden mit therapeutischer Substanz in der modernen Psychologie und Therapiepraxis etablieren sollen, halte ich es für wichtig, dieses Konzept bereits möglichst früh angehenden Psychologen zu vermitteln und den Blick der Universitäten für andere Therapiemethoden, welche achtsamkeitsbasierte Elemente enthalten zu weiten.
Der Trend zur Achtsamkeit mit der Integration in die Therapielandschaft stellt auch die Forschung vor eine spannende Herausforderung. Der buddhistische Ansatz der Achtsamkeit fokussiert, vergleichbar mit der Gestalttherapie, auf die introspektive und subjektive Erfahrung jedes Einzelnen. Das Erlebte aus der Perspektive der ersten Person steht im Zentrum der Betrachtung. Die westliche Wissenschaft untersucht aus der Sicht des neutralen Beobachters mit objektiven Methoden und versucht mit solchen zu erklären, wie achtsamkeitsbasierte Methoden funktionieren und wirken können. Durch diese Kombination eröffnete sich ein spannender Dialog zwischen kontemplativen Techniken und solchen der empirischen Psychologie, Therapieforschung, Neurophysiologie und Medizin. In Hirnforschung und Meditation. Ein Dialog. (Ricard & Singer, 2008) eröffnen Wolf Singer und Matthieu Ricard einen solchen Dialog zweier auf den ersten Blick sehr unterschiedlicher Disziplinen. Wolf Singer ist einer der weltweit führenden Neurophysiologen, Matthieu Ricard war Molekularbiologe und wurde dann buddhistischer Mönch. Im Buch tauschen sich beide über die Zusammenhänge von wissenschaftlicher Hirnforschung und kontemplativer Meditationstechniken aus und machen anhand von Studienergebnissen deutlich, wie das Training von Achtsamkeit unter anderem „mit einer Zunahme von Gamma-Oszillationen und neuronaler Synchronizität einhergeht“ (Ricard & Singer, 2008, S. 53) und „intensive [Achtsamkeits-]Meditation offenbar in der Lage ist, die Zahl und Größe der Synapsen zu vermehren, und somit ähnliche strukturelle Veränderungen bewirken kann wie andere Formen des Trainings und Lernens“ (Ricard & Singer, 2008, S. 64 f.).
Die Achtsamkeitswelle birgt die Chance für mehr Dynamik und Vielfalt bei der Wirksamkeitsforschung unterschiedlicher Therapiemethoden und fördert zudem die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Limitationen von empirischer Forschung.
In meiner Studie untersuche ich die potentiellen Effekte von Achtsamkeitstraining auf Persönlichkeit, Stressverarbeitung und Selbstaufmerksamkeit bei Psychologiestudenten und erfasse sie mittels standardisierter Fragebögen im Prä-Post-Vergleich. Mit dem Einsatz der Fragebögen (siehe Kapitel 5.7 Statistische Testverfahren) wird die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu den Effekten von Achtsamkeit im Rahmen eines quantitativen Forschungsdesigns gewährleistet.
Eine Frage begleitete mich bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Achtsamkeit immer wieder: Wie umfassend und aussagekräftig kann eine Methode messbar gemacht und hinsichtlich ihrer Effektivität bewertet werden, deren Kernmerkmal die urteilsfreie und vergängliche Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks ist?
Im Folgenden möchte ich einen Einblick in das Feld der Achtsamkeitsforschung geben. Ich fokussiere dabei auf Arbeiten, die das achtsamkeitsbasierte Mindfulness Based Stress Reduction-Programm evaluierten, da ich bei der Durchführung meiner Studie Elemente dieses Programms angewandt habe.
Zu Beginn der 1990er Jahre hat der amerikanische Verhaltensmediziner und Meditationslehrer Jon Kabat-Zinn Achtsamkeit in ein verhaltensmedizinisches Programm integriert, das als Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) bekannt wurde und in der von Kabat-Zinn gegründeten Stress Reduction Clinic in Massachusettes bis heute angewendet und wissenschaftlich untersucht wird. Kabat-Zinn ist einer der Wissenschaftler am vom Dalai Lama gegründeten Mind and Life Institute und gilt als Initiator der Integration von östlich verwurzelter Achtsamkeitspraxis in die westliche Wissenschaft, medizinische Betreuung und Behandlung. Das MBSR-Programm richtete sich anfangs hauptsächlich an Patienten mit chronischen Beschwerden, die auf Anraten ihrer Ärzte in die Stressklinik geschickt wurden. Die MBSR-Methode ist in den USA als medizinisches Verfahren anerkannt und wird dort von den Krankenkassen teilweise oder vollständig finanziert. Seit 2002 wird auch in Deutschland die Weiterbildung zum MBSR-Trainer angeboten und MBSR-Kurse teilweise von den Krankenkassen bezuschusst. In der Klinik Essen-Mitte wurde das MBSR-Programm bereits in die teilstationäre Behandlung integriert.
Eine Vielzahl klinischer, hauptsächlich amerikanischer Studien, testete das MBSR-Programm auf seine Wirksamkeit. Die geringe Anzahl deutscher Studien weist darauf hin, dass Kabat-Zinns Programm in Deutschland bislang weitaus weniger zum Einsatz kam und damit auch weniger evaluiert wurde. Der Psychologe Marcus Majumdar zeigte in einer deutschen Studie (Majumdar, 2000), dass sich „depressiv verstimmte und überbesorgte Studenten (...) nach einem achtwöchigen Entspannungsprogramm [gemäß MBSR] zufriedener [fühlten] und weniger physische und psychische Beschwerden“ (Bucher, 2007, S. 157) hatten. In einer Evaluationsstudie belegte Majumdar die Anwendbarkeit des MBSR-Trainings für Deutschland. (Majumdar et al., 2002)
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Beforscht wurden Effekte des MBSR-Programms in Bezug auf eine mögliche Veränderung im Stresserleben und psychischen Wohlbefinden hauptsächlich in den USA. Die untersuchte Zielgruppe war dabei meist eine klinische: Patienten, die unter chronischen Schmerzen (Kabat-Zinn, 1982; Kabat-Zinn et al., 1985; Kabat-Zinn et al., 1986) oder unheilbaren Krankheiten wie dem Fibromyalgiesyndrom leiden (Grossmann et al., 2007; Tiefenthaler-Gilmer, 2002), Krebspatienten (Carlson et al., 2003; Carlson & Garland, 2005; Carlson et al., 2007; Shapiro et al., 2003; Smith et al., 2005; Speca et al., 2000), depressive Patienten (Segal et al,, 2002) und solche mit Angststörungen (Miller et al., 1995). Neben diesen Stichproben konnte ein positiver Einfluss von Achtsamkeitstraining auf Patienten mit somatischen Beschwerden sowie auf die Qualität von Beziehungen nachgewiesen werden (Baer, 2003; Brown & Ryan, 2003; Brown et al., 2007; Grossman, Niemann, Schmidt & Walach, 2004; Piron, 2003). Weitere Gruppen, die in das Zentrum des Forschungsinteresses rückten sind Medizinstudenten (Majumdar, 2002; Rosenzweig et al., 2003; Shapiro et al., 1998) und Personal im Gesundheitswesen (Minor et al., 2006; Shapiro et al., 2003). Die Untersuchung nicht-klinischer Gruppen stellt jedoch einen weitaus geringeren Teil der Achtsamkeits- und MBSR-Forschung dar.
Welchen Beitrag kann die zukünftige Achtsamkeits-Forschung leisten, um bestehende Lücken, vor allem in der deutschen Forschung zu schließen? Welchen Beitrag möchte ich mit meiner Studie leisten?
Eine große Lücke in der aktuellen Forschungslandschaft besteht darin, dass der Fokus auf klinische Zielgruppen gelegt wird und Achtsamkeit damit – entgegen der eigentlichen Intention des Konzeptes – als Mittel zur Symptombeseitigung untersucht wird. Ich halte es für wichtig, dass die Haltung der Achtsamkeit vermehrt präventiv vermittelt und umgesetzt wird. Geeignete Zielgruppen sehe ich dabei vor allem in solchen, die in der Ausbildung zu helfenden Berufen sind: angehende Psychologen, Therapeuten, Mediziner, Sozialarbeiter, Pädagogen und auch Mitarbeiter in Unternehmen mit Personalverantwortung sowie Lehrende und Ausbilder im Bildungswesen.
Wie muss ein achtsamkeitsbasiertes Angebot gestaltet sein, damit es von solchen Berufsgruppen angenommen wird? Was kann dazu beitragen, dass Achtsamkeit nicht nur ein modischer Trend bleibt, den Deutschland von den USA unüberprüft übernimmt, sondern auf die hiesigen Bedürfnisse anpasst? Um dies herauszufinden ist ein „verantwortliches Experimentieren mit unterschiedlichen Möglichkeiten der Integration von Achtsamkeit“ (Michalak & Heidenreich, 2006, S. 327) notwendig.
In meiner Studie untersuche ich die möglichen Effekte von Achtsamkeitsübungen auf die Persönlichkeit, die Stressverarbeitung und die Selbstaufmerksamkeit bei Psychologiestudenten im ersten Studiensemester. Meinen Beitrag zur deutschen Achtsamkeitsforschung sehe ich zum einen darin, dass ich mit der Gruppe der Psychologiestudenten ein Kollektiv betrachte, dem bislang kein wissenschaftliches Interesse in diesem Kontext zukam. Zum anderen sehe ich in der Form meiner Umsetzung ein solches verantwortliches Experimentieren mit der Möglichkeit, Achtsamkeit zu vermitteln. Im Vergleich zum klassischen MBSR-Programm wähle ich eine kürzere Übungsdauer mit einzelnen Elementen des MBSR-Trainings, welche die Studenten eigenständig durchführen.
Was ist Achtsamkeit? Diese Frage kann aus zwei unterschiedlichen Perspektiven beantwortet werden. Aus der westlichen Perspektive wird Achtsamkeit als Informationsverarbeitungsprozess verstanden. Die Psychologin Ellen Langer definiert Achtsamkeit als die Fähigkeit eines Menschen zur Neubewertung – im Gegensatz zum Beharren auf feststehenden, im Verlauf des Lebens entwickelten Kategorien und Einstellungen. (Langer, 1989) Diese Einordnung des Achtsamkeits-Konzeptes gleicht einem Top-Down-Verarbeitungsprozess, bei dem individuelle Erfahrungen aus der Vergangenheit und Erwartungen Einfluss auf die Informationsverarbeitung haben und der Prozess durch die Regionen des präfrontalen Kortex gesteuert wird. (Chiesa et al., 2012; Ochsner & Gross, 2005; Rolls & Grabenhorst, 2008; Wiech et al., 2008)
In der östlichen Tradition, welcher auch Kabat-Zinns Anschauung von Achtsamkeit zugehörig ist, bedeutet Achtsamkeit die bewusste und urteilsfreie Aufmerksamkeitslenkung auf die Wahrnehmungen und Erfahrungen im gegenwärtigen Augenblick. (Kabat-Zinn, 1994) Diese Beschreibung von Achtsamkeit gleicht einem Bottom-Up-Prozess, geleitet von direkter Erfahrung durch Wahrnehmung eines Stimulus und dessen stufenweise Verarbeitung bis hin zur Reaktion im Verhaltensausdruck. Als Bottom-Up-Prozess geht Achtsamkeitstraining mit einer Reduktion in der Aktivität des limbischen Systems mit Amygdala und Striatum einher und findet ohne Beteiligung des präfrontalen Kortex statt. (Chambers et al., 2009; Gyurak et al., 2011) Die Inhalte meiner Studie gründen im Folgenden auf der östlichen Perspektive des Begriffs.
Zum Verständnis von Achtsamkeit oder Achtsamkeits-Meditation ist die Unterscheidung von zwei unterschiedlichen Formen von Meditation relevant. Die eine Form der Meditation ist dadurch gekennzeichnet, dass der Übende während des Meditierens einen Fokus setzt: auf ein bestimmtes Objekt, ein Mantra, den Atem, Klänge oder im Geist zu wiederholende Wortfolgen. Gedanken und Empfindungen werden als Störfaktoren betrachtet, die vom Meditierenden nicht weiter verfolgt werden sollen. Solche Konzentrations-Meditationen oder Meditationen der Einsgerichtetheit werden in der buddhistischen Tradition shamatha- oder samadhi-Meditationen genannt. Die Achtsamkeits-Meditation gehört zur zweiten Richtung der Meditationspraxis und wird auch als Einsichts-Meditation oder vipassana-Meditation bezeichnet. Sie unterscheidet sich insofern von der samadhi-Meditation, als dass man dabei keine Gedanken, Gefühle oder körperliche Empfindungen aus der Meditation ausschließt, man bringt sie vielmehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dadurch wird das, was der Meditierende im gegenwärtigen Augenblick denkt, fühlt und körperlich wahrnimmt selbst zum Thema der Meditation. (Kabat-Zinn & Kesper-Grossman, 1999)
Gom, das tibetische Wort für Meditation, bedeutet vertraut werden mit. Man lernt bei der Achtsamkeits-Meditation, sich mit dem eigenen Geist vertraut zu machen und ist gleichzeitig Wahrnehmender und externer Beobachter der eigenen Wahrnehmungen zum Zeitpunkt der Übung.
Meditation ist im Grunde ein Prozess des urteilsfreien Gewahrseins. Wenn wir meditieren, nehmen wir gegenüber unseren eigenen subjektiven Erfahrungen und Wahrnehmungen die objektive Betrachtungsweise eines Wissenschaftlers ein. (Mingyur Rinpoche, 2007, S. 212)
Urteilsfreies Gewahrsein bedeutet, während der Meditation nicht zu versuchen, Gedanken, Gefühle oder Körperempfindungen zu kontrollieren, als gut oder schlecht, angenehm oder unangenehm zu bewerten, zu analysieren oder zu verändern.
Was immer an Erfahrung Sie auch machen, solange Sie sich der Vorgänge bewusst und gewahr sind, ist es Meditation! Es findet nur dann ein Wechsel von der Meditation zu etwas anderem statt, wenn Sie versuchen, das Erlebte oder Wahrgenommene zu kontrollieren oder zu verändern. Doch wenn Sie sich diesen Versuch ins Gewahrsein rufen, ist auch das Meditation. (Mingyur Rinpoche, 2007, S. 265)
Mit den Worten des tibetisch-buddhistischen Meditationsmeisters Yongey Mingyur Rinpoche wird deutlich, worum es bei der Achtsamkeits-Meditation geht: jede Empfindung so anzunehmen, wie sie ist und sich darüber bewusst zu werden, dass der Geist sowohl die Fähigkeit hat, Gedanken und Gefühle zu produzieren, als auch wie ein neutraler Beobachter festzustellen, dass gerade etwas Bestimmtes gedacht oder gefühlt wird. „Wir benutzen den Geist, um den Geist zu erkennen.“ (Mingyur Rinpoche, 2007, S. 209) Um diese Fähigkeit des Geistes zur Abstraktion der eigenen Sinneswahrnehmungen zu schulen, bedarf es regelmäßiger Übung.
Jeden Augenblick als wichtig zu empfinden, als einen Augenblick, der zählt und mit dem man arbeiten kann, auch wenn es ein Augenblick der Trauer, des Schmerzes, der Verzweiflung oder der Angst ist. Damit zu ´arbeiten` bedeutet, regelmäßig und diszipliniert die Achtsamkeit auf die Gegenwart zu richten und die Fähigkeit zu entwickeln, in jedem Augenblick bewusst zu sein, jeden Moment einer jeden Erfahrung vollständig ´in Besitz zu nehmen`, sei es eine unangenehme oder eine angenehme Erfahrung. (Kabat-Zinn, 2011, S. 26)
Beim Versuch, die Konzentration im Hier und Jetzt zu halten, tauchen bei allen Menschen sehr schnell ablenkende Gedanken auf und jeder Meditierende stellt fest, dass er die meiste Zeit mehr mit Vergangenem oder Zukünftigem beschäftigt ist, als mit der Gegenwart. Daraus folgt, dass er sich dessen, was im Hier und Jetzt geschieht nicht voll bewusst sein kann. Die Bewusstheit im Hier und Jetzt ist jedoch notwendig, um wahrzunehmen, was belastet, gut tut, für die Gesundheit förderlich oder hinderlich ist, was Spaß macht, anstrengt und Stress auslöst, was motiviert oder langweilt. Ein dauerhafter Zustand von Nicht-Bewusstheit oder Un-Achtsamkeit lässt den Menschen die Signale seines Körpers nicht mehr erkennen und hat Auswirkungen darauf, wie er mit Stress umgeht, auf seine Entscheidungen und auch sein Selbstverständnis. Achtsamkeit ist aktives Üben von Bewusstheit und aktives Üben im Sein.
Meditation ist aktives Nicht-Tun. Meditierend lernen Sie, Sie selbst zu sein, und zwar auf eine bisher ungewohnte Weise. Sie versuchen nicht länger, so oder anders zu sein, sondern sind einfach so, wie Sie sind. (Kabat-Zinn, 2011, S. 51)
„Ironischerweise führt diese umfassende Wahrnehmung der Gedanken, die im Geist entstehen und vergehen, dazu, dass man sich weniger in ihnen verstrickt.“ (Kabat-Zinn & Kesper-Grossman, 1999, S. 11) Diese Definition von Veränderung durch Akzeptanz ist integraler Bestandteil der humanistischen Therapieansätze, wie beispielsweise der Gestalttherapie, und wird hier als Paradox der Veränderung bezeichnet.
Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht wenn er versucht, etwas zu werden, das er nicht ist. Veränderung (...) findet statt, wenn man sich die Zeit nimmt und die Mühe macht, zu sein, was man ist; und das heißt, sich voll und ganz auf sein gegenwärtiges Sein einzulassen. (Beisser, 1997, http://www.gestalt.de/beisser_paradox.html)
...
Die statistischen Ergebnisse machen deutlich, dass die Übung der Achtsamkeit die private Selbstaufmerksamkeit bei der Experimentalgruppe im Vergleich zu den Kontrollen signifikant erhöhte. Bei der Gruppe Kognitive Umstrukturierung blieben die Werte auf dieser Dimension nahezu konstant. Die Kontrollgruppe 2 machte keinerlei Übungen und die privaten Selbstaufmerksamkeitswerte nahmen bei dieser Gruppe im Verlauf der vier Wochen sogar ab.
In Kapitel 3.4.1 wurde dargestellt, dass sich private Selbstaufmerksamkeit auf die Fähigkeit einer Person bezieht, ihre Gefühle, Bedürfnisse und persönlichen Pläne ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken.
Die Ergebnisse meiner Studie zeigen, dass die Fähigkeit der privaten Selbstaufmerksamkeit durch die Praxis der Achtsamkeit geschult werden kann – und dies bereits über einen relativ kurzen Zeitraum von vier Wochen sowie in Form von eigenständiger Achtsamkeitspraxis ohne Anwesenheit eines Lehrers oder der Teilnahme an einer Gruppe.
...
Auszug aus dem Gutachten zur o.g. Diplomarbeit von Gutachter PD Dr. Reinhard Beyer:
Seit einiger Zeit wird in der psychologischen Literatur recht ausführlich über das Konzept von "Achtsamkeit" diskutiert, z.B.: Was ist genau darunter zu verstehen? Sind diesbezügliche Ideen aus östlichen und dabei insbesondere buddhistischen Traditionen auf westliche Verhältnisse übertragbar? Welchen Anteil könnten entsprechende Übungen an psychotherapeutischen Maßnahmen haben? Ist tatsächlich ein objektivierbarer Effekt nachweisbar? Frau Schott greift in ihrer Diplomarbeit vor allem die letzte Frage auf und versucht, eine zumindest vorläufige Antwort mit Hilfe einer eigenen empirischen Untersuchung zu geben.
Im theoretischen Teil der Arbeit wird der Leser sehr sorgsam in dieses Themenfeld eingeführt, die zentralen Begriffe werden erläutert und es findet eine Einordnung achtsamkeitsbasierter Elemente in bestehende Psychotherapiekonzeptionen aber auch in den gesellschaftlichen Diskurs statt. Frau Schott kann eine Reihe von Studien vorstellen, die bereits zeigen konnten, dass mit einem Achtsamkeitstraining positive Effekte erzielt werden können. Als Defizit dieser Studien stellt Frau Schott heraus, dass sie primär auf mögliche Effekte bei klinischen Gruppen orientiert sind (z.B. Schmerzpatienten, somatische Beschwerden, Angststörungen, Depressionen). Offen bleibt weitgehend die Frage des Einsatzes bei nichtklinischen Personengruppen im Sinne der Prävention. Diese Lücke möchte Frau Schott mit ihrer Untersuchung schließen. Sie wählt dafür eine Stichprobe von Psychologiestudenten aus. (...)
Die Studenten wurden je nach Untersuchungsgruppe (A.d.V. es gab 3 Gruppen: Experimentalgruppe, Kontrollgruppe I + II) zu einer Achtsamkeitsübung oder einer kognitiven Umstrukturierung oder zu gar keiner Intervention angehalten. Die Interventionszeit betrug lediglich 4 Wochen. Die Interventionsgruppen erhielten von Frau Schott eine ausführliche Einweisung zum selbständigen Üben während dieser 4 Wochen. (...)
Die Effekte der Achtsamkeitsübungen wurden über einen Prä-Post-Vergleich bezüglich der Big5, der Stressverarbeitung und der Selbstaufmerksamkeit geprüft. (...)
Es konnte gezeigt werden, dass die Achtsamkeitsübungen mit einer Zunahme der (privaten) Selbstaufmerksamkeit einhergingen.
Auszug aus dem Gutachten zur o.g. Diplomarbeit von Gutachterin Dr. Rebekka Gerlach:
Frau Schott widmet sich in ihrer Diplomarbeit dem vor allem im psychotherapeutischen Kontext viel diskutierten Thema der "Achtsamkeit", einem hauptsächlich in der buddhistischen Tradition verwurzelten Konzept, das jedoch in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr Zuspruch innerhalb der westlichen Kultur findet.
In ihrer Einleitung geht die Autorin ausführlich auf mögliche Gründe für dieses gestiegene Interesse ein, das sich mehr und mehr zu einem gesellschaftlichen Trend ausweitet. Sie lässt hier auch ihre Erfahrungen als praktizierende Gestalttherapeutin einfließen.
Im Zentrum der Arbeit steht die von der Autorin durchgeführte empirische Studie zur Überprüfung der Effekte eines Achtsamkeitstrainings auf Persönlichkeit, Stressverarbeitung und Selbstaufmerksamkeit von Psychologiestudenten.
Vorangestellt wird eine theoretische Einführung, in der die Autorin auf den gegenwärtigen Stand (A.d.V. 2013) der Achtsamkeitsforschung eingeht. Im Vordergrund steht hier das Mindfulness-Based-Stress-Reduction-Programm, das die Basis der von der Autorin evaluierten Achtsamkeitsübungen darstellt.