Wie wir in Stress geraten und welche Möglichkeit es gibt, damit umzugehen
Wie Stress entsteht
Eines der in der psychologischen Forschung bekanntesten Stresskonzepte ist das transaktionale Stressmodell von Lazarus. Es beschreibt, welche Möglichkeiten es gibt, Reize oder potentielle Stressoren, also Stressauslöser, wahrzunehmen und mit diesen umzugehen.
Wenn aus der Umwelt ein Reiz, z.B. ein Kommentar des Chefs im Büro, auf eine Person trifft, dann gibt es erst einmal die Möglichkeit, dass dieser Reiz von der Person gar nicht bewusst wahrgenommen wird. Der Reiz kommt entweder durch den Wahrnehmungsfilter hindurch oder nicht. Es kann also sein, dass die Person mit etwas ganz anderem beschäftigt ist und den Kommentar des Chefs gar nicht wahrgenommen hat.
Dringt der Reiz doch bis zur Person hindurch, also hört die Person z.B. dass der Chef von einem neu gewonnenen Kunden gesprochen hat, dann unterscheidet Lazarus verschiedenen Stufen der Bewertung dieses Reizes durch die Person:
1) Der Reiz wird entweder als positiv eingestuft ("Super, neuer Kunde, neues spannendes Projekt!"), 2) als irrelevant ("Hab ich eh nix damit zu tun. Ab in den inneren Papierkorb mit dieser Information.") oder 3) als gefährlich ("Noch mehr Arbeit? Wir kommen doch jetzt schon nicht mehr hinterher mit den Projekten!").
Im letzten Fall setzt laut Lazarus nun ein weiterer Bewertungsprozess ein, wobei die Person überprüft, ob sie (1.) für den erst als gefährlich eingestuften Reiz vielleicht doch genügend Ressourcen zur Verfügung hat, um diesen zu bewältigen ("Ok, es mag zwar mehr Arbeit sein, andererseits ist die neue Kollegin jetzt eingearbeitet und die andere kommt nächste Woche aus dem Urlaub zurück und überhaupt sind wir eigentlich im Team jetzt sehr gut aufeinander eingespielt und ich habe auch mal wieder Lust auf eine neue Herausforderung.."). Wenn ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen und die Person sich dieser bewusst ist, entsteht keine Stressreaktion.
Erst, wenn die Person das Gefühl von (2.) mangelnden Ressourcen zur Problembewältigung hat, so Lazarus, wird eine Stressreaktion ausgelöst.
Diese kann auf körperlicher Ebene stattfinden (z.B. Schwitzen, schnellerer Herzschlag, Zähne knirschen), auf emotionaler Ebene (Angst, Lustlosigkeit), auf mentaler (Gedankenrasen) oder auf Verhaltensebene (Hektik, nicht mehr konzentrieren können, Alkohol zum Beruhigen) - oder meist: auf allen Ebenen gleichzeitig.
Stress mit Achtsamkeit begegnen
Stress ist eigentlich nichts anderes als die Notwendigkeit, den wechselnden Anforderungen und Belastungen des Lebens Rechnung zu tragen. Veränderungen sind ein integraler Bestandteil unseres Daseins. Sie liegen in der Natur der Dinge. Wenn wir das verstehen und akzeptieren, anstatt uns fälschlicherweise davon bedroht zu fühlen, sind wir in einer sehr viel besseren Ausgangsposition, um Stress konstruktiv zu bewältigen. (Kabat-Zinn, 2011)
In einer Studie von Shapiro und Kollegen (1998) konnte gezeigt werden, dass das achtwöchige MBSR-/Achtsamkeits-Training nach Jon Kabat-Zinn den psychischen Stress von 200 Achtsamkeit praktizierenden Medizinstudenten dauerhaft reduzierte. Eine weitere Studie wurde vom amerikanischen Hirnforscher Richard Davidson durchgeführt. (Davidson, 2003) Die Zielgruppe der Studie setzte sich aus Angestellten eines amerikanischen Unternehmens zusammen. Ziel der Studie war, festzustellen, ob ein zehnwöchiges von Jon Kabat-Zinn geleitetes Training in Achtsamkeit die physischen und psychischen Auswirkungen von Stress am Arbeitsplatz verringern konnte. EEG-Tests zeigten eine signifikante Aktivitätssteigerung im Bereich des linken Stirnlappens bei den Teilnehmern des Achtsamkeitstrainings im Vergleich zur Kontrollgruppe, die kein Training durchführte. Der linke Stirnlappen ist die Region, welche mit positiven Emotionen in Verbindung gebracht wird. Ferner ergaben Blutproben der Versuchspersonen, dass die Achtsamkeit-Praktizierenden einige Monate nach Ende der Trainingsphase ein signifikant höheres Maß an Grippeantikörpern aufwiesen und damit durch das Achtsamkeitstraining eine Verbesserung ihres Immunsystems erzielt werden konnte. (Davidson, 2003)
Viele weitere Studien belegen die Wirksamkeit der Achtsamkeitspraxis in Bezug auf ein geringeres Stressempfinden und einen konstruktiven Umgang mit täglichen Anforderungen.
Was bedeutet Achtsamkeit?

In der östlichen Tradition, welcher auch Kabat-Zinns Anschauung von Achtsamkeit zugehörig ist, bedeutet Achtsamkeit oder Achtsamkeits-Meditation die bewusste und urteilsfreie Aufmerksamkeitslenkung auf die Wahrnehmungen und Erfahrungen im gegenwärtigen Augenblick. (Kabat-Zinn, 1994)
Gom, das tibetische Wort für Meditation, bedeutet „vertraut werden mit“. Man lernt bei der Achtsamkeits-Meditation, sich mit dem eigenen Geist vertraut zu machen und ist gleichzeitig Wahrnehmender und externer Beobachter der eigenen Wahrnehmungen zum Zeitpunkt der Übung. Während der Meditation soll in einem so genannten "urteilsfreien Gewahrsein" nicht versucht werden, Gedanken, Gefühle oder Körperempfindungen zu kontrollieren, als gut oder schlecht, angenehm oder unangenehm zu bewerten, zu analysieren oder zu verändern.
Es geht folglich darum, während der Achtsamkeits-Meditation jede Empfindung so anzunehmen, wie sie ist und sich darüber bewusst zu werden, dass der Geist sowohl die Fähigkeit hat, Gedanken und Gefühle zu produzieren, als auch wie ein neutraler Beobachter festzustellen, dass gerade etwas Bestimmtes gedacht oder gefühlt wird. „Wir benutzen den Geist, um den Geist zu erkennen.“ (Rinpoche) Um diese Fähigkeit des Geistes zur Abstraktion der eigenen Sinneswahrnehmungen zu schulen bedarf es regelmäßiger Übung.
"Erwarten Sie nichts und schon gar nicht etwas Besonderes."
Diesen Leitsatz gibt Jon Kabat-Zinn den Teilnehmern seines Achtsamkeitstrainings zu Beginn des Programms mit auf dem Weg.
Am Anfang unserer Kurse bitten wir alle Teilnehmer, drei Ziele zu nennen, die sie sich im Zusammenhang mit dem Programm gesteckt haben. Dann ermutigen wir sie, während der acht Wochen keinerlei Anstrengung zu unternehmen, um diese Ziele zu erreichen, das heißt, nicht zu versuchen, den Blutdruck zu normalisieren, Angst zu überwinden oder schmerzfrei zu werden, sondern sich ausschließlich auf die Gegenwart zu konzentrieren und den Meditationsanweisungen genau zu folgen. Der beste Weg, um in der Meditation Ziele zu erreichen, ist diese loszulassen und nicht etwa, sie mit allen Mitteln erreichen zu wollen. (Kabat-Zinn, 2011)
Ziel der Meditation ist es also nicht, in besondere Zustände zu gelangen wie Trance, Schmerzfreiheit, Emotionslosigkeit, Gedankenleere oder ähnliches. In der Meditation geht es darum, da zu sein, wo man gerade ist, und nicht darum, irgendwo anders hinzukommen. Somit werden Verbesserung der Beziehungen, Entspannung, Stressreduktion oder die Verminderung von Schmerzen nicht als Ziel der Meditation betrachtet, sondern als mögliche Effekte, die eintreten können, wenn der Übende nicht versucht diese willentlich herbeizuführen.
Jetzt ist es natürlich Quatsch zu sagen, dass Sie überhaupt kein Ziel verfolgen dürfen, wenn Sie anfangen, Achtsamkeit zu üben. Natürlich beginnen die meisten Menschen ihre Meditationspraxis nicht aus der Motivation heraus, bereits vollkommen in sich zu ruhen. Natürlich ist eine bestimmte Zielvorstellung auch Motor und Motivation, um etwas zu lernen. Es gilt hier meiner Meinung nach eher, dass Sie sich bewusst sind, wie sehr Sie alles mögliche in der Zukunft liegende wollen anstatt erst einmal bei dem zu bleiben, was ist und das Hier und Jetzt mit all seinen Möglichkeiten und Herausforderungen auszuloten.
Letzteres üben Sie mit der Achtsamkeitspraxis - ein Innehalten und nicht-wertendes Beobachten von Reizen und Reaktionen, um mit den Worten von Lazarus zu sprechen, wodurch Sie sich die Freiheit verschaffen können, zu entscheiden, wie Sie auf Anforderungen reagieren möchten, wie Ihre Bewertung ausfällt und welche Ressourcen Sie aktivieren. Und zwar weder nur kopfgesteuert, noch nur von Affekten und starken Emotionen beherrscht, sondern unter Einbezug Ihres ganzen Selbst und den Gegebenheiten Ihrer Umwelt.
Achtsamkeit schafft Handlungsspielraum, schult den Geist, einen klaren Fokus zu behalten oder wieder zu entwickeln, fördert zudem die emotionale Intelligenz und die Fähigkeit, Empathie zu entwickeln und stärkt Sie in selbstbewusstem Handeln im Einklang mit Ihren Werten und der eigenen Energiebilanz.
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Victoria Bindrum (Friday, 07 April 2017 20:31)
"In der Meditation geht es darum, da zu sein, wo man gerade ist, und nicht darum, irgendwo anders hinzukommen" - was für ein schöner und treffender Satz! Danke für diesen Beitrag, der das Thema Achtsamkeit so gut auf den Punkt bringt.