Allheilmittel Achtsamkeit!?

Hat die Achtsamkeits-Praxis auch Risiken und Nebenwirkungen?

Forschungsergebnisse legen nahe: Achtsamkeit ist das Allheilmittel unserer Zeit. Überall hört und liest man von den positiven Effekten der Achtsamkeitspraxis. Chronische Schmerzen sollen weniger stark erlebt werden, die Qualität unserer Beziehungen sich verbessern, weil wir uns in Mitgefühl für andere und uns selbst üben und es wird uns versprochen, dass wir bei regelmäßiger Praxis gelassener mit den täglichen Herausforderungen des Lebens umgehen - was auch immer dieses uns bescheren mag.

 

Angebote, um Achtsamkeit zu lernen und zu üben gibt es zuhauf. Meist in Form von mehrwöchigen Meditationskursen, kompakten Wochenend-Workshops oder intensiveren Retreats. Wenig hört und liest man von potentiellen Gefahren solcher Angebote.

Gibt es überhaupt Risiken und Nebenwirkungen der Achtsamkeits-Praxis?

Um diese Frage zu beantworten ist eine grundlegende Unterscheidung notwendig: Achtsamkeit als Haltung und Achtsamkeit als Technik. 

 

Achtsamkeit als Haltung


Ich möchte kurz skizzieren, was ich unter einer achtsamen Haltung verstehe: Durch bewusste Aufmerksamkeitslenkung, meine Gefühle, Gedanken und Körperempfindungen wahrzunehmen und dabei sorgsam zu prüfen, wie ich diese in die Welt bringe (oder auch nicht) - als Worte, Taten, Ideen, Schweigen, eben als mein Einfluss auf diese Welt. Insofern geht Achtsamkeit als Haltung zugleich einher mit verantwortungsvoller und bewusster Handlung.

 

Für mich hat eine achtsame Haltung nicht notwendigerweise etwas mit Vorsicht, Verlangsamung oder Besänftigung zu tun, wie ich es immer wieder im Kontext von diesem Begriff höre. Ich kann auch eine achtsame Lebenshaltung haben und ein ganz aktiver, durchsetzungsstarker und auseinandersetzungsfreudiger Mensch sein. Das widerspricht sich für mich keineswegs. Ich muss nicht zu jeder Frage meiner Chefin oder meines Ehemanns erst einmal sagen: "Da kann ich dir noch nicht darauf antworten. Da muss ich erst mal gründlich nachspüren."

 

Zentral scheint mir im Kontext einer achtsamen Haltung eher die Qualität des Kontaktes zu mir selbst und zu meiner Umwelt, sowie die Bewusstheit darüber und das Verantwortungsgefühl dafür.

 

Was den Punkt Achtsamkeit als Haltung betrifft, behaupte ich, dass es KEINE schädlichen Konsequenzen für eine Person hat eine solche Haltung zu entwickeln.

 

Jetzt kommt es aber auch wieder darauf an, was von jedem Einzelnen als schädlich verstanden wird. Wenn Sie es als schädlich erleben, dass Sie sich durch mehr Selbstwahrnehmung nun Schmerzen, Beziehungsproblemen oder belastenden Gefühlen bewusst werden, dann kann das schon sein, dass Sie denken, "Verdammt, ich war zwar nicht unbedingt glücklich, aber zumindest hat es nicht weh getan." Das ist dann so, wie wenn man sich besser fühlt, von einer Krankheit, die man hat nicht zu wissen. Sie können dann eben auch keine Schritte unternehmen, um diese Krankheit zu bewältigen.

 

MEIN FAZIT ALSO:

Risiken und Nebenwirkungen durch eine achtsame Haltung: JA, schädliche Konsequenzen: NEIN.

 

 

Achtsamkeit als Technik

Achtsamkeit als Technik ist das, was uns seit einiger Zeit als "MBSR-Kurse", "Achtsamkeits-Retreats" oder "Stressmanagement durch Meditation-Workshops" an jeder Ecke begegnet. Auch ich biete solche "Achtsamkeits-Workshops" in meiner Praxis an.

 

Bei solchen Angeboten üben Sie Aspekte, die zu einer achtsamen Haltung beitragen können - Sie bekommen die Haltung allerdings nicht mit der Teilnahmebescheinigung zertifiziert.

 

Solche Aspekte sind zum Beispiel: Wahrnehmungsschulung, Konzentrationsfähigkeit, Bewusstwerden der Urteile, die wir ständig über uns und andere fällen, Beobachten von Gedanken und Gefühlen anstatt mit ihnen zu verschmelzen uvm.

 

Die Technik können Sie ausprobieren und merken vielleicht, Ja, tut mit gut und macht Sinn, wenn ich das weiter in mein Leben einbaue ODER: nee, is gar nicht mein Ding, auf so nem Meditationskissen werd ich vollkommen kirre. Auch gut und selbst im zweiten Fall ist es natürlich möglich, dass Sie eine achtsame Lebenshaltung haben. Sie brauchen keinen MBSR-Kurs besuchen, um achtsam zu leben. Das wäre ja noch schöner.

 

Achtsamkeit als Technik kann durchaus schädliche Risiken und Nebenwirkungen haben, auch wenn die Forschung dies bisher noch nicht umfassend* belegt hat.

 

Dies liegt unter anderem daran, dass Forschungsdesigns (bei allem Anspruch an Objektivität) bislang eher danach ausgerichtet waren zu untersuchen, was funktioniert und nicht danach, zu untersuchen, was alles schief laufen kann. Bei den untersuchten Achtsamkeits-Programmen handelt es sich meist um standardisierte MBSR-Programme, das heißt, die Gefahr, dass ein Trainer hier etwas anbietet, das in irgend einer Form "völlig aus dem Rahmen fällt" ist relativ gering.

 

Folgende Aspekte haben meiner Meinung nach Einfluss darauf, ob ein Achtsamkeits-Angebot schaden kann:

 

 

Die Art und Intensität des Angebots muss vor Kursbeginn transparent sein.

 

Damit meine ich, dass deutlich sein muss, was die TeilnehmerInnen bei dem Achtsamkeits-Angebot genau erwartet und worauf sie sich einlassen: handelt es sich um ein niedrigschwelliges Angebot, wie z.B. ein Workshop, bei dem sich Achtsamkeitsmeditationen immer wieder mit Informations-Input und anderen Übungen abwechseln; oder um ein intensiveres Angebot wie ein mehrwöchiger Kurs oder mehrtägiges Retreat. Auch die Erwartungen an die TeilnehmerInnen, was eigene Übungszeiten zu Hause betrifft hat Einfluss auf die Intensität des Kurses und muss vor Kursbeginn transparent sein.

 

Aus meiner Erfahrung kann ich erzählen, dass es nicht immer so einfach ist zu unterscheiden, was denn genau jetzt ein intensiveres Angebot ist und was nicht. Ob ein Angebot als intensiv erlebt wird, kommt letztendlich einzig und allein auf den jeweiligen Teilnehmer an. Ich habe mal einer Gruppe von Psychologiestudenten eine Einführung in das Thema Achtsamkeits-Meditation gegeben und war der Meinung, dass ich dieses Angebot sehr niedrigschwellig konzipiert hatte. Dann wurde ich eines besseren belehrt, denn es gab einige der Studierenden, die es in absoluten Stress versetzt hat, nur für ein paar Minuten in einer Gruppe still zu sitzen und dabei nicht auf ihr Handy zu sehen oder sonst etwas zu tun, was sie sonst in einer solchen Situation tun würden.

 

Das führt mich zum nächsten Punkt:

 

Trainer und TeilnehmerInnen sollten eine Idee davon haben, wie verwundbar die TeilnehmerInnen in ihrer derzeitigen Lebenssituation sind.

 

Mit verwundbar meine ich das, was in der Psychologie unter Vulnerabilität verstanden wird - also wie anfällig ich mich in meiner momentanen Lebenssituation für Verletzungen psychischer Art fühle. Zu vulnerabel, um an einem Achtsamkeits-Kurs teilzunehmen ist zum Beispiel ein Mensch in einer akuten Psychose oder Depression - auch wenn Achtsamkeitsübungen bei Menschen mit Psychosen und Depressionen erfolgreich angewandt werden - es kommt aber auf den Zeitpunkt an: entscheidend ist ein Mindestmaß an derzeitiger emotionaler Stabilität.

 

Leichter gesagt, als getan, im Vorfeld eines Achtsamkeits-Kurses eine Idee zu haben über die Vulnerabilität der Teilnehmer. Bei manchen Angeboten ist dies ganz einfach durch ein Vorgespräch zwischen Trainer und Teilnehmer möglich. Aber selbst wenn ich als Trainer die Möglichkeit habe, ein solches Vorgespräch mit jedem einzelnen zu führen, heißt das noch nicht, dass ich die Vulnerabilität verlässlich einschätzen kann und auch die Teilnehmerin ist sich evtl gar nicht über ihre psychische Anfälligkeit bewusst. Es bleibt also ein Aspekt, den es zwar zu beachten gilt, der allerdings nicht umfassend erfasst werden kann.

 

Für mich bedeutet dieser Aspekt auch, dass die Trainerin Erfahrung in der Wahrnehmung und Einschätzung von Menschen haben muss, bestenfalls durch eine therapeutische Ausbildung.

 

Natürlich ist nicht nur ein von einem Therapeuten oder einer Therapeutin geleiteter Achtsamkeitskurs ein guter Kurs, bei dem "nichts schief gehen" kann. Das wäre ja Quatsch und darum geht es auch nicht. Ich möchte hier auch nicht den Eindruck erwecken, dass man in jedem Achtsamkeits-Kurs grundsätzlich einmal Gefahr läuft emotional zusammenzubrechen. Was ich aber schon deutlich machen möchte, ist die Tatsache, dass, wenn man sich wirklich auf die Achtsamkeits-Praxis einlässt, auch mit Gefühlen konfrontiert wird, die nicht so angenehm sind. In jedem Angebot, das ich bisher zum Thema Achtsamkeit entweder als Teilnehmerin besucht oder als Trainerin geleitet habe, gab es stets mindestens eine Person, die in für sie überraschender Intensität mit solchen meist als "negativ" erlebten Gefühlen konfrontiert wurde - Ärger, Langeweile, Frustration, Leere, Traurigkeit, Angst ... - und  das führt mich zum letzten Punkt, den es meiner Meinung nach zu beachten gilt:

 

Es muss deutlich sein, an wen sich die TeilnehmerInnen wenden können, wenn beim Achtsamkeitstraining Erfahrungen gemacht werden, die den Rahmen einer therapeutische Begleitung brauchen.

 

Und dies sollte ebenfalls am besten im Vorfeld des Kurses/ Angebots vom Trainer deutlich kommuniziert werden, damit die Hemmschwelle für die Teilnehmer, ein solches Angebot dann auch anzusprechen und wahrzunehmen nicht zu hoch ist.

 

 

Wenn diese 3 Punkte beachtet werden - Transparenz der Art und Intensität des Angebots, relative Klarheit über die derzeitige Verwundbarkeit der TeilnehmerInnen sowie Kommunikation von unterstützenden ggfs. therapeutischen Angeboten, ist die Basis für eine gute Erfahrung mit den Techniken der Achtsamkeitspraxis geschaffen.

 

 

Abschließend noch ein paar Gedanken dazu, warum ich finde, dass Achtsamkeit gerade in unserer Zeit so hilfreich und notwendig ist:

 

Unsere übernervöse Umwelt macht es uns nicht gerade leicht zu unterscheiden, was uns wirklich interessiert im Leben und was nicht. Eine achtsame Haltung kann uns wieder Orientierung aus uns selbst heraus geben. Zudem werden wir mit einer achtsamen Lebensführung auch immer wieder merken, dass sich die Qualitäten von Beziehung und Bindung nicht durch technische Neuerungen ersetzen lassen. Durch die besondere Art der Aufmerksamkeitslenkung bei der Achtsamkeitspraxis kommen wir unweigerlich mit unserem Grundbedürfnis nach Kontakt in Berührung - eine Art von Kontakt jenseits vom Austausch in sozialen Medien und Smalltalk-Bekanntschaften. Facebook und WhatsApp können uns inzwischen noch so viele Emoticons anbieten, die Umarmung der besten Freundin werden sie nie ersetzen.

 


* Erste Forschung zu Risiken und Nebenwirkungen von Achtsamkeits-Trainings gibt es von Kuyken, Warren et al. & Dalgleish (2016), welche in ihrer Studie belegten, dass Achtsamkeitstraining bei klar definierten Zielgruppen und gut ausgebildeten Trainern keine schädlichen Konsequenzen für die TeilnehmerInnen hatte. Eine weitere Studie von Rocha (2014) untersuchte die Risiken bei Achtsamkeits-Retreat-TeilnehmerInnen und stellte fest, dass einige der TeilnehmerInnen über starke, mehrere Monate andauernde psychische Belastungen nach der Retreat-Teilnahme berichteten. Die Forschung über Risiken der Achtsamkeitspraxis steht aber noch ganz am Anfang und es kann kein klar belegtes Fazit in die eine oder andere Richtung aus diesen Forschungsergebnissen gezogen werden.


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